Die Weisheit der Vielen trifft nur manchmal zu
„Einstimmig“ klingt beruhigend. Wenn eine Jury einstimmig zu einer Entscheidung gekommen ist, nimmt man an, dass der Fall klar war. Und wenn Einstimmigkeit keine Option ist, würden die meisten Menschen die Mehrheit jederzeit der Minderheit vorziehen. Tali Sharon ergänzt: „Eine Lösung, die von der Mehrheit favorisiert wird, klingt sofort besser als eine, die von der Minderheit bevorzugt wird.“ Viele Menschen glauben, dass sie bessere Entscheidungen fällen, wenn sie auf die Weisheit der vielen achten und sich deren Credo zu eigen machen. Eine allgemein akzeptierte Meinung lautet: Je mehr Köpfe an einer Entscheidung beteiligt sind, desto besser – und zwar egal, ob es sich um die Entscheidung für eine Geschäftsstrategie oder die Speisenfolge eines Abendessens handelt. Tali Sharot wurde an der New York University in Psychologie und Neurowissenschaften promoviert und ist Professorin am Institut für experimentelle Psychologie der University of London.
Echte Unabhängigkeit ist nahezu unmöglich
Die Idee, dass wahre Weisheit in der Masse liegt, wurden in den vergangenen Jahren durch James Surowieckis berühmtes Buch „Die Weisheit der Vielen“ populär gemacht. Wer es jedoch sorgfältig liest, wird merken, dass der Autor seinen Lesern zu bedenken gibt, dass die vielen nur unter ganz bestimmten Bedingungen weiser sind als der Einzelne. Dennoch glauben die meisten Menschen, dass ganz grundsätzlich zwei Gehirne besser sind als eines und tausend sogar noch besser. Die Wahrheit ist aber nicht ganz so einfach. Eine Gruppe kann weise sein, aber oft ist sie töricht.
Eine Gruppe entscheidet nur dann weise, wenn die Einschätzungen der einzelnen Personen unabhängig voneinander erfolgen. Studien von Tali Sharot und anderen Wissenschaftlern haben gezeigt, dass es angesichts eines bestehenden Konsenses nur etwa dreißig Prozent aller Menschen wagen, eine abweichende Meinung zu äußern. Echte Unabhängigkeit aber ist nahezu unmöglich zu erreichen. Wer daher vorhat, sich auf die Magie der Masse zu verlassen, muss sich vorab fragen, in welchem Maße die Ansichten der Leute in seiner Gruppe oder sozialen Netzwerk unabhängig voneinander sind.
Viele Menschen sind übertrieben optimistisch
Tali Sharot erläutert: „Hatten die Personen in Ihrer Gruppe eine Möglichkeit, miteinander zu kommunizieren, bevor sie ihre Meinung kundtun, ist die Unabhängigkeit dahin.“ Da Menschen soziale Geschöpfe sind, interagieren sie gerne miteinander. Da die Gesellschaft und die Menschen sehr eng miteinander verwoben sind, ist es häufig unmöglich, anderen unabhängige Meinungen zu entlocken. Man kann allerdings einiges dafür tun, um die gegenseitige Beeinflussung gering zu halten.
Es gibt unzählige Gelegenheiten, in denen die Mehrheit den Hang hat, sich in die eine oder andere Richtung zu irren. Tali Sharot erklärt: „Dazu zählen etwa Fehler bei der Prognose zukünftiger Ereignisse. Menschen tendieren dazu, übertrieben optimistisch zu sein – sie unterschätzen beispielsweise Dauer und Kosten langfristiger Projekte.“ Zudem tendiert man dazu, positive Beziehungen zu sehen, selbst wenn es gar keine gibt. Das übergroße Vertrauen vieler Menschen in die Mehrheitsmeinung kann sich zu suboptimalen Entscheidungen, schrägen Ansichten und verpassten Gelegenheiten auswachsen. Quelle: „Die Meinung der anderen“ von Tali Sharot
Von Hans Klumbies